Leseprobe aus "Mein Leben als Berghebamme"


Das Kuckuckskind

Vom Küchenfenster aus sah ich, trotz Schneegestöbers, den Rettungswagen vorfahren und sauste sogleich an die Haustür. Einer der Fahrer, der Sepp, rief mir vom Wagen aus zu, dass die Frau Wehen habe, die um zwei Monate zu früh eingesetzt hätten, und dass sie nun bei mir entbinden wolle.
Ehe ich mich versah, und noch bevor ich protestieren konnte, denn laut Vorschrift waren Frühgeburten ein Fall für die Klinik, hatte ich die Schwangere im Haus, und der Rettungswagen war hinter einer Wand aus dichten Schneeflocken verschwunden. Mir blieb also nichts anderes übrig, als die werdende Mutter auf mein Entbindungsbett zu legen und mit der Untersuchung zu beginnen.
Nach der Öffnung des Muttermundes zu urteilen, zumal es sich um eine Erstgebärende handelte, hatte es mit der Geburt noch eine gute Weile Zeit. Aber von einer Frühgeburt bei ihr konnte meiner Meinung nach keine Rede sein. Ihr Leibesumfang und das Abtasten des Leibes deuteten zweifelsfrei daraufhin, dass es sich bei ihr um ein voll ausgetragenes Kind handelte. Demnach hätte sie also doch nicht in die Klinik gebraucht.
Verschwörerisch zwinkerte ich der jungen Frau zu: "Wir beide wissen, dass es sich bei dir um keine Frühgeburt handelt. Aber diese Weisheit behalten wir für uns. Trotzdem musst du ins Krankenhaus, das Kind liegt quer."
Als ich erneut die Rettung anrief, war der Wagen gerade wieder angekommen. "Es hilft nichts, Burschen, ihr müsst noch einmal herkommen. Die Frau hat eine Querlage und muss in die Klinik."
"Das geht auf keinen Fall", antwortete es am anderen Ende der Leitung. "Die Klamm ist zu. Wir kommen nicht durch."
"Woher wollt ihr das wissen? Wart ihr heute schon dort?", fragte ich barsch.
"Das nicht", gab der Mann zu. "Aber wir kennen das aus Erfahrung. Bei der Wetterlage ist kein Durchkommen."
"Ach, red keinen Unsinn. Die Bundesstraße wird doch ständig geräumt. Bis wir an die Klamm kommen, haben die das bisschen Schnee längst rausgeschoben." Das Bisschen waren immerhin sechzig Zentimeter!
"Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht, weil es sich nicht lohnt. Ich rede nämlich nicht von dem Schnee, den es hineingeschneit hat, sondern von den Lawinen, die bei dem anhaltenden Schneefall ständig von beiden Seiten in die Klamm sausen."
"Dann bestellt halt einen Hubschrauber. Die Frau muss weg."
"Hubschrauber!", echote der Anderl spöttisch. "Das glaubst doch selbst nicht, dass der bei dem Wetter fliegt. Man sieht ja kaum die Hand vor Augen."
Er hatte Recht. Das war ein sehr dummer Vorschlag von mir. "Na, gut, dann probier ich halt, ob ich das Kind drehen kann."
Zwei Stunden mühten wir uns beide ab, die Agda und ich. Es war nichts zu machen. Voller Verzweiflung rief ich abermals bei der Rettung an. "Ihr müsst kommen!", beschwor ich die Sanitäter.
"Wir können nicht durch die Klamm. Das ist viel zu gefährlich. Es könnte jederzeit eine Lawine niedergehen."
"Es könnte! Muss aber nicht! Vielleicht haben wir Glück. Wir müssen es durch die Klamm probieren. Die Frau braucht einen Kaiserschnitt. Wenn nicht bald was geschieht, stirbt sie mir auf dem Kreißbett mitsamt dem Kind."
Das wirkte. Wenige Minuten später waren sie wieder da. Wir verfrachteten die Schwangere in den Wagen und schnallten sie auf der Liege fest. Dann ging es los durch die Nacht...